Standhaft trotz Verfolgung

Die Repression der Nationalsozialisten gegenüber religiöser Minderheiten und Kriegsdienstverweigerern am Beispiel der Warendorfer Familie Jeremias

Ein diktatorisches Regime, wie der NS-Staat von 1933 - 1945, das keine demokratische Legitimation besitzt, wird praktisch schon von seinem Charakter her gezwungen, sich verschiedener Feindbilder zu bedienen, um von den eigenen verbrecherischen Zielen ablenken und Parteigänger wie Indifferente oder sogar kritisch Distanzierte zu einer gemeinsamen Frontstellung gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner zusammenzuschweißen. In diesem Zusammenhang konnte schon allein nonkonformes gesellschaftliches Verhalten, das auf den ersten Blick keine aktiven gegensätzlichen Positionen und Haltungen zum NS-Regime bezog, ausreichen, um in den Fokus der staatlichen Verfolgungsbehörden zu geraten.

So geschah es auch mit den Warendorfern Max u. Ida Jeremias, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung in die Mühlen der gnadenlosen NS-Justiz gerieten. Nach ihrer Verhaftung im Mai 1936 wurden die Eheleute ein Jahr später "durch Urteil der I. Kammer des Sondergerichts in Dortmund [...] wegen verbotener Bibelforschertätigkeit [...]" jeweils zu mehrmonatiger Gefängnisstrafe verurteilt.

Bis zu diesem Zeitpunkt verlief der Lebensweg der Familie Jeremias ähnlich den zahlreichen Beschäftigten in der Warendorfer Textilindustrie. Aus dem sächsischen/ schlesischen Raum gebürtig, siedelte sich die Familie spätestens seit 1909 in Warendorf an. Der Vater von Max Jeremias, Alwin, bekleidete eine leitende Position in der Produktion bei der Fa. Brinkhaus. Seit den zwanziger Jahren war Max Jeremias als kaufmännischer Angestellter im gleichen Unternehmen tätig.
Krankenstation KZ Sachsenhausen 
Die Krankenstation im KZ Sachenhausen bei Oranienburg 
Foto: Hans-Joachim Werner, 5/1995 © 
Befand sich der Vater Alwin aufgrund seiner Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche bereits in einer gewissen Randpostition bezüglich der katholischen Mehrheit in Warendorf, galt dies sicher mehr noch für seinen Sohn Max Jeremias und seine Frau Ida. Beide sollen bereits in den frühen zwanziger Jahren den Zeugen Jehovas angehört haben. Wenn unter diesen Umständen auch von einer Außenseiterposition der jungen Familie Jeremias ausgegangen werden muß, hervorgerufen durch Mißtrauen des tief katholisch geprägten Warendorfer Milieus gegenüber der als suspekt empfundenen religiösen Überzeugung, so sind jedoch für die Jahre der Weimarer Republik keine direkte Diskriminierung nachweisbar. 
Die spärlichen Informationen über die Familie in dieser Zeit kann auch auf eine von der Familie selbstgewählte Zurückgezogenheit beruhen, was nahe liegt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß damals Gemeindestrukturen der Zeugen Jehovas in Warendorf nicht existierten und sich Max und Ida Jeremias bis nach Ahlen hin orientieren mußten, um Gleichgesinnte zu finden.

Dieses Leben in durchaus geregelten Bahnen, welches sich kaum von dem der Mitbürger unterschied fand mit der Errichtung der totalitären NS-Diktatur ihr Ende! Die Nationalsozialisten werteten jedes religiöse Bekenntnis als Gefahr für ihre Ideologie, die sie langfristig als 'Ersatzreligion' zu etablieren trachteten. Die Ablehnung des Kriegsdienstes durch die Zeugen Jehovas verschärfte entscheidend die schon komplizierte Situation ihrer Anhänger, weil sie damit in grundsätzlicher Weise den expansionistischen Zielen des NS-Staates entgegenstanden, denn spätestens. mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935, ein wichtiger Meilenstein der NS-Kriegsvorbereitungen, avancierte die Kriegsdienstverweigerung mit einem Schlag von einer individuellen und privaten Entscheidung zu einem Staatsverbrechen besonderer Schwere.

Im Frühjahr 1937 fand das Gerichtsverfahren gegen Max und Ida Jeremias vor dem zuständigen Sondergericht Dortmund statt. Die Berichterstattung in der NS-gelenkten Presse, läßt auf eine flächendeckende Aktion gegen die Zeugen Jehovas schließen, fanden doch zur gleichen Zeit eine große Anzahl gleichartiger Prozesse statt. Das Verfahren gegen die Eheleute Jeremias hielten die NS-Behörden für so bedeutend, daß ein Verhandlungstermin des Sondergerichts Dortmund im Sitzungszimmer des Warendorfer Amtsgerichts anberaumt wurde. Offenbar sollte der hiesigen Bevölkerung die Folgen einer distanzierten und verweigernden Haltung gegenüber den Forderungen des Regimes deutlich vor Augen geführt werden. Auch die Verhandlungsführung der NS-Justiz läßt darauf schließen, das hier ein warnendes Exempel statuiert werden sollte, daß über die Anhängerschaft der Zeugen Jehovas weit hinauszielte. Das Regime instrumentalisierte die kleine Minderheit der Zeugen Jehovas als Feindbild, indem man sie als Gefahr für Volk und Staat brandmarkte, da sie sich insbesondere der allgemeinen gesellschaftlichen Militarisierung verweigerten.

Hier einige kurze Auszüge aus der Sondergerichtsverhandlung, die eher einem polizeilichen Verhör glich:
Der Gerichtsvorsitzende fragte: "Sie verweigern den Kriegsdienst?"
Max Jeremias entgegnete: "Ich halte mich an das fünfte Gebot."
Der Gerichtsvorsitzende weiter: "Sie lehnen also alles ab, auch die NSV? Grüßen Sie die nationalen Symbole?"
Max Jeremias antwortete: "Ich grüße sie nicht, beschimpfe sie aber auch nicht."
Nun wandte sich der Gerichtsvorsitzende an Ida Jeremias: "Sie achten also die Gesetze des Staates nicht. Erweisen Sie den deutschen Gruß?"
Ida Jeremias antwortete: "Nein. Weil in der Bibel steht: In keines anderen Namen ist Heil gegeben..."
Haupttor des KZ Sachsenhausen bei Oranienburg 
Haupttor des KZ Sachsenhausen bei Oranienburg 
Foto: Hans-Joachim Werner, 5/1995 © 
Nach Verbüßung der Gefängnisstrafen sollte die Verfolgung der Familie nicht beendet sein, denn die Eheleute Jeremias wurden von der Gestapo ohne Richterspruch in sogenannte 'Schutzhaft' genommen, ein oft angewandter Willkürakt, um Gegner und andere dem Regime unliebsame Menschen auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam zu halten, was nur zu oft mit dem Tod der Betroffenen verbunden war. 
Sogar Freigesprochene wurden häufig noch im Gerichtssaal durch die Gestapo, welche von der NS-Führung ermächtigt war, sich über alle Rechtsprinzipien hinwegzusetzen, verhaftet. Nach Verbüßung der Gefängnisstrafen wurde Max Jeremias sofort in das Konzentrationslager Sachsenhausen überführt, während seine Ehefrau zunächst entlassen wurde. Die Gestapo nahm sie am 14.1.1938 wieder in Haft lieferte sie fünf Tage später in das Polizeigefängnis in Münster ein.

Auch für die unglückliche Ida Jeremias sollte das Münsteraner Gefängnis nur eine Zwischenstation auf dem weiteren Leidensweg in ein Frauen-Konzentrationslager darstellen. Aus einer Mitteilung des Bürgermeisters Hachmann vom Sommer 1938 geht hervor, daß die Gestapo sie in das KZ Lichtenburg bei Leipzig verschleppt hatte. Doch das alles reichte den Nationalsozialisten noch nicht! Um die Familie Jeremias vollends zugrundezurichten, sollte den inhaftierten Eltern auch noch ihre Tochter geraubt werden.

Das NS-Regime hatte schon früh nach Beginn seiner Herrschaft eine Verordnung erlassen, daß Kinder aus sogenannten im Sinne des NS-Staates 'politisch unzuverlässigen' Familien zu entfernen seien, um in parteitreuen Pflegefamilien eine NS-konforme Erziehung sicherzustellen. In der Praxis kam diese inhumane Bestimmung glücklicherweise aus verschiedenen Gründen nicht allzu häufig zur Anwendung. Nicht so in Warendorf! Offenbar auf eigene Initiative, über diesbezügliche Anordnungen der Gestapo geben die Quellen keinen Aufschluß, informierte der Warendorfer Bürgermeister Tewes, der in Personalunion den Posten des Kreisleiters der NSDAP bekleidete, das Kreisjugendamt darüber, daß "die Erziehung des Kindes im nationalsozialistischen Sinne bei den Eltern nicht gewährleistet" sei, und forderte das Amt auf, "die Entziehung des Personenfürsorgerechtes der Eltern [...] zu beantragen."

Doch genügte dem Nationalsozialisten Tewes die Aufhebung des elterlichen Sorgerechtes offensichtlich noch nicht und er instruierte das Kreisjugendamt darüber hinaus "für das Kind selbst die Fürsorgeerziehung beantragen zu wollen." Das Instrument der Fürsorgeerziehung war ursprünglich für deliquente oder stark sozial gefährdete Jugendliche vorgesehen. Damit ging der Warendorfer Bürgermeister soweit, ein 6jähriges Kind als kriminell abzustempeln. Der Landrat und NS-Gauinspekteur Gerdes unterstützte seinen Bürgermeister und Parteigenossen bei dessen Vorhaben und schlug den Lehrer der evangelischen Schule in Warendorf als Vormund für Ruth Jeremias vor.

In den Augen des Nationalsozialisten Gerdes mag dieser Lehrer als Angehöriger der 'Deutschen Christen' aus politischen Gründen der rechte Mann gewesen sein. Über seine pädagogischen Fähigkeiten und insbesondere menschlich-charakterlichen Eigenschaften gingen die Urteile der Zeitgenossen auseinander. In der Nachkriegszeit "bezeichnete Polizeirat Müller den Lehrer nach Elternbeschwerden als pathologischen Sadisten, der seine Freude daran hatte, Kinder zu quälen."

Seziertisch in der Krankenstation von Sachsenhausen 
Seziertisch in der Krankenstation des KZ Sachsenhausen bei Oranienburg 
Foto: Hans-Joachim Werner, 5/1995 © 
Am 15.3.1938 beschloß das Vormundschaftsgericht beim Warendorfer Amtsgericht gemäß den Einlassungen von Tewes und Gerdes in dem anhängigen Verfahren, weil "Max Jeremias sein Vaterland nicht mit den Waffen verteidigen will, während seine Ehefrau es ablehnt, irgend etwas für nationale Zwecke zu tun. [...] Es war daher den Eheleuten Jeremias das Personensorgerecht über ihre Tochter Ruth [...] zu entziehen. Da sich die Eheleute zur Zeit [...] im Konzentrationslager befinden und [...] zu erwarten ist, daß sie für längere Zeit nicht entlassen werden, stellte das Vormundschaftsgericht das Ruhen der elterlichen Gewalt [...] fest. Die Eheleute sind daher [...] zur Ausübung der elterlichen Gewalt nicht berechtigt." 
Max Jeremias fiel 1940 den Quälereien und Entbehrungen der SS-Schergen im KZ Sachsenhausen zum Opfer. Den inhaftierten Zeugen Jehovas, von den Wachmannschaften abschätzig 'Bifos' tituliert, wurde allgemein in den Konzentrationslager eine besonders grausame und entwürdigende Behandlung zuteil. Sein Frau Ida überlebte das NS-Regime und wohnte nach 1945 wieder in Warendorf.

Die Eheleute Jeremias standen in ihrer unerschütterlichen Überzeugung offenbar allein und ohne Unterstützung in ihrer Heimatstadt Warendorf, ähnlich wie es später Pater Markötter und Dechant Wessing, die ihren Bekennermut mit dem Leben bezahlten, die jüdischen Bürger der kleinen örtlichen Gemeinde, von denen nur die Gräber als Spuren blieben und zahllose Verfolgte an vielen anderen Orten erfahren mußten. Die Einschüchterung der Bevölkerung durch das Regime mag hier wirksam geworden sein. Unheilvoll dürfte sich aber auch die Haltung von Teilen des hohen katholischen Klerus ausgewirkt haben, der sich über alle weltanschaulichen Differenzen hinweg bei der Repression gegen Kommunisten, Sozialisten, Freidenkern und Zeugen Jehovas mit dem Vorgehen des NS-Regimes weitgehend einig zeigte
Schussanlage KZ Sachsenhausen 
Schußanlage im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg 
Foto: Hans-Joachim Werner, 5/1995 © 
Die gnadenlose Verfolgung, welche Max Jeremias und seiner Familie durch das NS-Regime zuteil wurde, könnte nicht zuletzt als perfide Retourkutsche der Nationalsozialisten für das langjährige intensive Engagement des Vaters Alwin Jeremias innerhalb der evangelischen Gemeinde Warendorfs angelegt gewesen sein. Mit der grausamem Behandlung des Sohnes und seiner Familie sollte möglicherweise auch gleichzeitig der Vater getroffen und im Hinblick auf zukünftigen Einsatz für die Kirche gewarnt werden, was die dauernde eigentümliche Vornamensnennung 'Alwin' in den einschlägigen Hetzberichten der NS-gelenkten Presse erklärt, wenn eigentlich von 'Max' Jeremias die Rede sein muß. 
Auch Differenzen mit der Fa. Brinkhaus über die Produktion im Rahmen der kriegsvorbereitenden Autarkiepolitk und den damit besonders in der Warendorfer Textilindustrie einhergehenden ökonomischen Probleme könnten indirekt über die verbrecherische Behandlung des Angestellten Jeremias austragen worden sein.

Das Schicksal von Max, Ida und Ruth Jeremias stellt ein trauriges Beispiel dar, wie skrupellos und unbarmherzig das NS-Regime gegen Menschen vorging, die sich dem inhumanen System der hohlen und verlogenen 'Volksgemeinschaft' verweigerten, auch wenn dies in einer Weise von passiver Resistenz geschah, die das NS-Regime vordergründig nicht gefährden konnte. Die Nationalsozialisten schreckten dabei auch nicht davor zurück, Familien zu zerstören. Abschließend bleiben noch Hinweise zu erwähnen, die darauf hindeuten, daß als negative Kontinuität über das Ende des NS-Staates hinaus, Mißtrauen und Distanz gegenüber kleinen religiösen Minderheiten, wie sie die Zeugen Jehovas repräsentierten, weiterbestanden, wobei sich die Zurücksetzung solcher Gruppen auf kleinerem Niveau und mit subtileren Methoden fortsetzte. Beispielsweise wurden die zahlreichen Anträge seitens Ida Jeremias, den Warendorfer Zeugen Jehovas einen Gebetsraum in einer Schule zu gewähren, von der Stadtverwaltung zurückgewiesen.
Gitter des Haupttores im KZ Sachsenhausen 
Gitter des Haupttores im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg 
Foto: Hans-Joachim Werner, 5/1995 © 
Resigniert stellte Frau Jeremias nach 5jährigen vergeblichen Bemühungen 1951 gegenüber dem Warendorfer Stadtdirektor fest: "Die Bundesgesetze sichern Gleichberechtigung der Interessen aller rassischen, politischen, religiösen u. weltanschaulichen Körperschaften. Es befremdet uns sehr, daß man von seiten der Stadtverwaltung unserem wiederholten Antrag auf Berücksichtigung unserer Interessen und Bedürfnisse ablehnend begegnet". Nahezu bruchlos führte man somit die Ausgrenzung einer Minderheit weiter, was nur wenige Jahre zuvor, während der NS-Herrschaft so katastrophale Folgen gezeitigt hatte. 
Aber es gab auch andere Stimmen in Warendorf, obwohl sich die Verdrängung nationalsozialistischer Untaten bereits wie Mehltau über das gesellschaftliche Leben der jungen Bundesrepublik gelegt hatte. Ein Jahr zuvor hatte die Fa. Brinkhaus in der Werkszeitung 'Ketting und Einschlag' ihres ermordeten Mitarbeiters mit folgenden ehrenden Worten gedacht: "Max [Jeremias] war viele Jahre als kaufmännischer Angestellter beschäftigt, ein fleißiger, nur auf gewissenhafte Arbeit bedachter, ruhiger Mitarbeiter. Als Zeuge Jehovas wurde er im Mai 1936 von den Nazis verhaftet und starb im Mai 1940 als ein beklagenswertes Opfer verbrecherischer Grausamkeit im Konzentrationslager Sachsenhausen, ohne bis zu seinem Tode seiner Glaubensauffassung untreu geworden zu sein."

(Vortrag von Jürgen Gojny in der Warendorfer Stadthalle 'Bürgerhof' am 23. März 1998 anläßlich der Präsentation einer Ausstellung und eines Dokumentarfilms zur Verfolgung der Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime (1933 - 1945))


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Letzte Änderung am  06.12.2011